Metamorphose des Raums

„Mich interessiert der Raum, als Geschehen, als Erlebnis, als sinnliche Wahrnehmung.“

So hat Andreas Kocks seine Beweggründe vor einiger Zeit beschrieben. Es könnten die Worte eines Forschers, eines Wissenschaftlers, eines Astronomen sein. Der Künstler als Entdecker, der den Raum untersucht, indem er mit dem von ihm ausgewählten Material in den vorgefundenen, definierten Raum eingreift und ihn verändert. So, wie es Tony Cragg ausgedrückt hat: „Wir Künstler sind Entdecker, indem wir uns in das Material verlängern.“ (Tony Cragg 1999, Interview WDR Nachtkultur) Für Andreas Kocks ist dieses Material das Papier, das, wie er sagt, als Medium neutral, zeitlos und universal sei. Aber er nutzt es nicht wie ein Vehikel, ein Hilfsmittel, um etwas Unbekanntes im Raum oder gar einen unbekannten Raum zu erforschen. Er besteigt kein Schiff, tritt keine Sternenreise an, blickt nicht in die unendliche Dunkelheit des Alls. Vielmehr verwandelt er mit dem Papier das, was er vorfindet und überführt es in einen anderen Zustand. Was vorher statisch erschien, der definierte Raum, ist durch den Eingriff des Künstlers gleichsam in Bewegung geraten. Der Raum, normalerweise das schlechthin Statische, Unbewegliche, wird, wie Andreas Kocks zu recht sagt, zum Geschehen, damit zu etwas Dynamischen. Das bedeutet Bewegung und damit Zeiterfahrung.

Vorher also die bestimmte Fläche der Wand. Flach, meist neutral weiß. Gleichmäßigkeit. Nun, auf einmal, Gewölk. Schlingerndes. Fließendes. Sich zart Entfaltendes. In den Raum Hineinwachsendes. Licht und scharfer Schatten. Tiefe. Plastizität. Manchmal auch milde, hell und wolkengleich dahinziehend. Oder explodierend, wie die große, dunkle Papier-Arbeit, die Wand-Installation „In The Beginning“: Ein Knall. Eine Explosion. Schärfe. Ungeheure Geschwindigkeit, hinausgejagt in den Raum. Grelles Zerbersten. Höchste Energieentladung, aus einem Zentrum heraus. Die Richtung offen: Birst das in den Raum oder gleicht es einem Zerschmetterwerden an der Wand? Beides lässt sich assoziieren. Man könnte aber auch sagen, es gleiche einem gigantischen Ausatmen. Aber es gibt auch weiche Formen in dieser Installation, die ein gleichzeitiges Einatmen signalisieren. Zusammenziehen und, zur gleichen Zeit, ein Auseinanderjagen: Das deutet auf eine scheinbar chaotische, weil nicht berechenbare Form hin. Voraussetzung dafür, das etwas entsteht. Denn nur aus Chaos wächst Neues. Tohuwabohu ist der hebräische Name dafür und er verweist auf „In The Beginning“, auf die Schöpfung genauso wie den Urknall.

Und doch ist diese „Unordnung“ genau berechnet, kalkuliert, hat Andreas Kocks skizziert, verworfen, erneut skizziert, übereinandergelegt, geschnitten, probiert, erneut geschnitten, feinste Schnitte, kleinste Überlagerungen, Kurvungen und Wölbungen und hat alles aufgebracht auf die Wand in einem unendlich langwierigen Prozess des Erforschens, Schaffens und Findens. Damit wird eine der vielen Widersprüchlichkeiten berührt, mit denen Andreas Kocks dem Werk seine eigentümliche Spannung gibt. Denn was für den Betrachter aussieht, als formte sich gerade Materie aus einer Explosion heraus, ist das Ergebnis eines erfahrungsgesättigten, überaus sorgfältigen künstlerischen Prozesses, dem ungezählte und immer neue Einzelentscheidungen zugrunde liegen, die Andreas Kocks zu treffen hat, bis hin zur Stärke des Papiers und dem zeichnerischen Aufbringen des Graphits, das dem Material Dunkelheit, Glanz und metallische Dichte gibt.
Ein weiterer Widerspruch, und er ist genauso offenbar, ist die scheinbare Eruption, die wir wahrnehmen. Man erlebt rasende Geschwindigkeit, einen jähen Akt, einen plötzlichen Knall, der alles davon zu schleudern scheint und ein Einsaugen, Hineinatmen. Und das, obwohl das Werk doch offenkundig statisch ist, ein angehaltener Augenblick, der sich nie verändert. Damit stellt sich die Frage nach der Zeit, jener Dimension, die wir nicht verstehen, sondern nur messen können, oder spüren, wie der Dichter Hugo von Hoffmansthal formuliert. Eine Erfahrung, die angesichts verschiedener Wandarbeiten von Andreas Kocks nachvollziehbar und beinahe im wörtlichen Sinn „begreifbar“ wird.
Der Raum als Geschehen, als Erlebnis und sinnliche Wahrnehmung: Das ist das Feld, das Andreas Kocks künstlerisch erforscht. Ein Feld, das er sich selber schafft. Denn der Eingriff in den Außenraum, den des Museums, der Galerie, den Raum der Betrachter und seine Veränderung geschieht, indem der Künstler einen eigenen Raum aus organischen Formen in die Architektur fast wie ein Lebewesen einbringt, ihn wie eine Intervention hineinsetzt. Er lässt diesen eigenen Raum in jeder Wandarbeit entstehen. Die ist dabei stets illusionärer und wirklicher Raum zugleich: Bildhaft zeichnet sich große Tiefe, zeichnen sich in Licht und Schatten verschiedene Ebenen ab, die doch nur millimeter- oder zentimetertief reichen oder sich nur einen Atemzug weit aus der Fläche erheben, reliefgleich ausgeschnitten oder hauchfein in das leichte, geradezu luftige Material eingeschnitzt sind. Eine fragile, unendlich vielfältige Landschaft aus vielen Überlagerungen und Verzweigungen, mäandernd zuweilen, weich oder wirbelnd, ruhig oder berstend, gebündelt oder verströmend, geballt oder ausufernd.
Andreas Kocks schafft Räume höchster Abstraktion. Er könnte die Arbeiten nummerieren, statt ihnen Titel zu geben. Und doch bleiben sie offen für Assoziationen, für individuelle Erkennbarkeiten, für den Reichtum von Gedanken und Fantasie der Betrachtenden.

Es sind Räume aus lebendigen Formen, geschaffen für meist rechtwinklig entworfene Räume, die white cubes. In ihnen können die Raumgebilde des Künstlers ihre ganze organische Dynamik entfalten, ihre Kraft. Sie treten damit trotz und gerade wegen der Leichtigkeit und Verletzlichkeit des Materials Papier in einen spannungsvollen Dialog mit den Menschen, ihrer Welt und ihren Räumen, die sie nun verändert vorfinden. Damit können die Betrachter ihrerseits zu Entdeckern der Räume und ihrer Wechselwirkung “als Geschehen, als Erlebnis, als sinnliche Wahrnehmung“ (Andreas Kocks) werden. Das ist allerdings ausschließlich in der Zeit möglich, denn es setzt Bewegung voraus. Nur im Verändern des eigenen Standpunktes lassen sich für den Betrachter andere, neue Perspektiven wahrnehmen. Das ist Voraussetzung jedweder Entdeckung und damit Entwicklung.
Andreas Kocks hat das so ausgedrückt:
„Diese schrittweise Wahrnehmung entspricht meiner eigenen Vorgehensweise während der Arbeit und führt zu den Fragen, die mich am meisten interessieren: Wie verhält sich der skulpturale Raum zum Betrachter, wie verhält er sich zum architektonischen Umraum, in den er eingefügt ist.“

text by wilhelm warning